Ein Eispalast im Sommer: Kühles Wandern im Martelltal auf die Vordere Rotspitze (3.031 Meter)

zuerst veröffentlicht im Bergzeit Magazin (14. Oktober 2015)
Im heißen Sommer des Jahres 2015 herrschten im platten Lande tagsüber Temperaturen knapp unter vierzig Grad. Die Nächte brachten keine Abkühlung. Tagelang. Wochenlang. Im August des Schwitzens überdrüssig, lebte der Traum von Hängematten in Gletscherspalten. Realität wurde er im Eispalast am Ende des Martelltals, eines südlichen Seitentals des Vinschgau.
Am frühen Morgen lockte uns ein tiefblauer Himmel, und die fünf Grad, die dort oben auf 2.051 Metern Seehöhe herrschen, lassen uns endlich wieder durchatmen. Die junge Sonne verzaubert die grandiose Landschaft mit ihrem atemberaubend schönen Licht. Wir marschieren los, im Rucksack ein zünftiges zweites Frühstück aus Bergkäse und Brot. Nach etwa fünfhundert Metern auf der Fahrstraße, die an der imposanten Ruine des Mitte der Dreißiger Jahre erbauten und nach dem Zweiten Weltkrieg dem Verfall preisgegebenen Luxushotels Paradiso endet, zweigt rechts ein Weglein ab, das ein Stück am Schranbach entlang über bisweilen morastiges Wiesengelände mäßig bergan führt. Von rechts oben blickt die Zufallhütte einladend herab. Sie muss noch einige Stunden auf unseren Besuch warten. Durch einen Lärchenwald und über baumlose Wiesenmatten, die bald gerölligem Terrain Platz machen, gehen wir auf dem gleichmäßig ansteigenden Pfad bergwärts, und wir sind nun doch ganz froh über die Sonnenstrahlen, die uns etwas Wärme spenden. Auf den letzten rund einhundert Höhenmetern zum Gipfel wird der Weg steiler und führt, mit einem Stahlseil gesichert, durch eine schattige Rinne. Bei der kleinen Kletterei sehnen wir fast Handschuhe herbei. Seil und Fels sind mit einer dünnen Eisschicht überzogen.

Gipfelanstieg zur Rotzspitze

Am Gipfel angekommen, sind wir erst einmal überwältigt von der Kulisse, die sich vor uns ausbreitet. Rings um uns ein funkelnder Palast aus Eis und Schnee, kontrastiert durch das Blau des Himmels, das Graugrün der Felsen, das satte Türkis der Gletscherseen. Wir genießen, eingehüllt in Fleece-Pullover und Wanderjacke, unser zweites Frühstück, verewigen uns im Gipfelbuch und können uns an der Natur um uns nicht sattsehen. Wir blicken hinunter zum leuchtend blaugrün schimmernden Zufrittsee, hinüber zur Fürkelescharte, zu Zufallspitze, Suldenspitze, Königsspitze, Veneziakamm, Schranspitze, Ortler und Kollegen, die sich gerade eine Wolkenmütze überziehen, deren Schatten bizarre Gestalten auf den Schnee zeichnen.

 
 

 

 

Blick vom Rotspitz-Gipfel

Schließlich steigen wir ab. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Nach der Rinne wenden wir uns nach links und gehen unterhalb von Schran-, Ultenmarkt- und Hohenferner durch eine fast schon mystisch anmutende Landschaft – satt rotbraun glänzendes, „rostiges“ Eisengestein, so weit das Auge reicht, und kleine Gletscherseen, die für noch mehr Farbe sorgen.

 
 

 

 

Am Ultner Markt, auf etwa 2.600 Metern, mischt sich Gras mit rötlich gefärbten Rispen in die Szenerie. Glockengeläut und Gemecker ertönen. Eine Schafherde ist unterwegs. Friedliches Idyll, Arkadien der Hirten, Sinnbild bukolischer Landschaft.

Schafe am Ultner Markt

Als wir an der 1882 von Alpenvereinssektion Dresden erbauten Marteller Hütte ankommen, ist erst einmal Schluss mit Idylle und Bergeinsamkeit. Eine Wandergruppe ist zu Gast, deren Mitglieder Terrasse und Gastraum füllen. Italienisch parlierende Zünftige spielen auf den Bänken rings um die Hütte ein Spiel, das an Knobeln erinnert und in dem der Schnaps eine tragende Rolle inne zu haben scheint. So lustig das Leben hier auch sein mag – uns ist’s zu voll und deutlich zu laut. Wir ignorieren unseren Appetit und gehen weiter zur imposanten „Großen Mauer“. Schuld am Bau der Talsperre ist die Plima. Immer wieder überschwemmte der Bach das Martelltal bis hinunter nach Latsch im Vinschgau. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gesellte sich das Phänomen des Ausbruches von Gletscherseen hinzu. Die Zunge des Zufallferners lag quer im Tal der Plima und staute im Winter, wenn der Abfluss zugefroren war, Wasser an. So bildete sich oberhalb der Gletscherzunge ein stetig wachsender See, der mit dem Anstieg der Temperatur im Frühjahr sein Hindernis durchbrach und den Menschen unvorstellbares Leid brachte. Wassermassen, Bäume, Eisklötze, Felsbrocken und anderes mehr schossen ins Tal. So am 17. Juni 1891. In der Ortschaft Gand, schrieb ein Augenzeuge, „herrscht grösstes Elend“, denn dort, wo einst „die Dorfgasse war, läuft jetzt die Plima“. Beim nächsten Gletschersee-Ausbruch 1895 erfüllte die neue Talsperre ihren Zweck. Heute ist sie arbeitslos, denn der Zufallferner hat sich längst aus dem Talboden zurückgezogen. Die Plima bringt kein Leid mehr, sondern trägt bei Unwettern oder während der Schneeschmelze Findlinge zu Tal, aus welchen der nach ihr benannte Marteller Granit gefertigt wird.

 
 

 

 

Zufall-Hütte

Bald erreichen wir die Zufall-Hütte. Vom blauen Himmel in der Früh ist nur noch wenig zu sehen, und dicke dunkelgraue Wolken lassen der Sonne keine Chance mehr. Während draußen Regen aufzieht, genießen wir im gemütlichen Innern der Hütte Schokoladentorte und frische Marteller Erdbeeren mit Schlagsahne. Über den Tischen hängen Fotos aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, vor der Hütte stehen Info-Tafeln. Die Zufall-Hütte war von 1915 bis 18 Heimat des Abschnittskommandos IV des Festungsrayon I der Ortlerfront. Auf dem Zufall-Boden rings um die Hütte standen ein Mannschafts-Abort, zwei Seilbahn-Bergstationen, Pferdestallungen mit Feldschmiede und Materialdepot, zwei Mannschaftsbaracken, eine Bade- und Entlausungsstation, ein Soldatenkirchlein und ein Waschhaus für die Soldatenkleidung. Einzig das Kirchlein ist noch erhalten, und die Ruine des Waschhauses dämmert dem Verfall entgegen.
Der Regen begleitet uns zum Ausgangspunkt der Tour, den wir über einen bequemen Wanderweg erreichen. Unterwegs überholen wir die Bergwanderer aus Italien. Vor wenigen Stunden haben sie die Marteller Hütte mit Leben gefüllt. Jetzt gehen sie, eingehüllt in bunte Regenumhänge, fast andächtig bergab.

 
 

 

 

Rotspitz-Gipfel_Gipfelbuch

Tourdaten

  • Anreise, Start und Ziel: Parkplatz Talschluss Martell (Nächtigung für Wohnmobile gestattet, eigens für Camper ausgewiesene Parkplätze)
  • Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Mit der Vinschgau-Bahn bis Goldrain und mit dem Bus durch das Martelltal bis Talschluss.
  • Länge: 12,5 Kilometer
  • Höhendifferenz: 2.044 bis 3.031 Meter
  • Höhenmeter: bergauf 1.101 und bergab 1.102 Meter
  • Schwierigkeitsgrad: mittel

Karte, Infos und Literatur