Ein Eispalast im Sommer: Kühles Wandern im Martelltal auf die Vordere Rotspitze (3.031 Meter)
Am Gipfel angekommen, sind wir erst einmal überwältigt von der Kulisse, die sich vor uns ausbreitet. Rings um uns ein funkelnder Palast aus Eis und Schnee, kontrastiert durch das Blau des Himmels, das Graugrün der Felsen, das satte Türkis der Gletscherseen. Wir genießen, eingehüllt in Fleece-Pullover und Wanderjacke, unser zweites Frühstück, verewigen uns im Gipfelbuch und können uns an der Natur um uns nicht sattsehen. Wir blicken hinunter zum leuchtend blaugrün schimmernden Zufrittsee, hinüber zur Fürkelescharte, zu Zufallspitze, Suldenspitze, Königsspitze, Veneziakamm, Schranspitze, Ortler und Kollegen, die sich gerade eine Wolkenmütze überziehen, deren Schatten bizarre Gestalten auf den Schnee zeichnen.
Schließlich steigen wir ab. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Nach der Rinne wenden wir uns nach links und gehen unterhalb von Schran-, Ultenmarkt- und Hohenferner durch eine fast schon mystisch anmutende Landschaft – satt rotbraun glänzendes, „rostiges“ Eisengestein, so weit das Auge reicht, und kleine Gletscherseen, die für noch mehr Farbe sorgen.
Am Ultner Markt, auf etwa 2.600 Metern, mischt sich Gras mit rötlich gefärbten Rispen in die Szenerie. Glockengeläut und Gemecker ertönen. Eine Schafherde ist unterwegs. Friedliches Idyll, Arkadien der Hirten, Sinnbild bukolischer Landschaft.
Als wir an der 1882 von Alpenvereinssektion Dresden erbauten Marteller Hütte ankommen, ist erst einmal Schluss mit Idylle und Bergeinsamkeit. Eine Wandergruppe ist zu Gast, deren Mitglieder Terrasse und Gastraum füllen. Italienisch parlierende Zünftige spielen auf den Bänken rings um die Hütte ein Spiel, das an Knobeln erinnert und in dem der Schnaps eine tragende Rolle inne zu haben scheint. So lustig das Leben hier auch sein mag – uns ist’s zu voll und deutlich zu laut. Wir ignorieren unseren Appetit und gehen weiter zur imposanten „Großen Mauer“. Schuld am Bau der Talsperre ist die Plima. Immer wieder überschwemmte der Bach das Martelltal bis hinunter nach Latsch im Vinschgau. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gesellte sich das Phänomen des Ausbruches von Gletscherseen hinzu. Die Zunge des Zufallferners lag quer im Tal der Plima und staute im Winter, wenn der Abfluss zugefroren war, Wasser an. So bildete sich oberhalb der Gletscherzunge ein stetig wachsender See, der mit dem Anstieg der Temperatur im Frühjahr sein Hindernis durchbrach und den Menschen unvorstellbares Leid brachte. Wassermassen, Bäume, Eisklötze, Felsbrocken und anderes mehr schossen ins Tal. So am 17. Juni 1891. In der Ortschaft Gand, schrieb ein Augenzeuge, „herrscht grösstes Elend“, denn dort, wo einst „die Dorfgasse war, läuft jetzt die Plima“. Beim nächsten Gletschersee-Ausbruch 1895 erfüllte die neue Talsperre ihren Zweck. Heute ist sie arbeitslos, denn der Zufallferner hat sich längst aus dem Talboden zurückgezogen. Die Plima bringt kein Leid mehr, sondern trägt bei Unwettern oder während der Schneeschmelze Findlinge zu Tal, aus welchen der nach ihr benannte Marteller Granit gefertigt wird.
Bald erreichen wir die Zufall-Hütte. Vom blauen Himmel in der Früh ist nur noch wenig zu sehen, und dicke dunkelgraue Wolken lassen der Sonne keine Chance mehr. Während draußen Regen aufzieht, genießen wir im gemütlichen Innern der Hütte Schokoladentorte und frische Marteller Erdbeeren mit Schlagsahne. Über den Tischen hängen Fotos aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, vor der Hütte stehen Info-Tafeln. Die Zufall-Hütte war von 1915 bis 18 Heimat des Abschnittskommandos IV des Festungsrayon I der Ortlerfront. Auf dem Zufall-Boden rings um die Hütte standen ein Mannschafts-Abort, zwei Seilbahn-Bergstationen, Pferdestallungen mit Feldschmiede und Materialdepot, zwei Mannschaftsbaracken, eine Bade- und Entlausungsstation, ein Soldatenkirchlein und ein Waschhaus für die Soldatenkleidung. Einzig das Kirchlein ist noch erhalten, und die Ruine des Waschhauses dämmert dem Verfall entgegen.
Der Regen begleitet uns zum Ausgangspunkt der Tour, den wir über einen bequemen Wanderweg erreichen. Unterwegs überholen wir die Bergwanderer aus Italien. Vor wenigen Stunden haben sie die Marteller Hütte mit Leben gefüllt. Jetzt gehen sie, eingehüllt in bunte Regenumhänge, fast andächtig bergab.
Tourdaten
- Anreise, Start und Ziel: Parkplatz Talschluss Martell (Nächtigung für Wohnmobile gestattet, eigens für Camper ausgewiesene Parkplätze)
- Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Mit der Vinschgau-Bahn bis Goldrain und mit dem Bus durch das Martelltal bis Talschluss.
- Länge: 12,5 Kilometer
- Höhendifferenz: 2.044 bis 3.031 Meter
- Höhenmeter: bergauf 1.101 und bergab 1.102 Meter
- Schwierigkeitsgrad: mittel
Karte, Infos und Literatur
- Tabacco 045, Latsch – Martell – Schlanders. Topographische Wanderkarte 1:25.000
- Einkehrmöglichkeiten
◦ Marteller Hütte
◦ Zufall-Hütte
◦ Hotel Pizzeria Ortlerhof, Martell
◦ Restaurant Pizzeria Laurin, Goldrain - Literatur
Der Ausbruch des Eissees im Martellthale. (1891). Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 17, 159-160.
Granit aus Südtirol – Natur pur. (2012). Stein Zeitschrift für Naturstein S12, 8-15.